Eine Stimme aus Israel
Uri Avnery, Gründer des israelischen Friedensblocks "Gusch Schalom" hielt am 5.8.2006 auf einer Friedensdemonstration in Tel Aviv die folgende Rede - jener Avnery, von dem es im März des Jahres hieß, der Vorsitzende der rechtsextremen israelischen Partei "Jüdisch-Nationale Front", Baruch Marsel, habe die Armee zur gezielten Tötung des 82-jährigen Journalisten Avnery aufgerufen.
Die Rede wurde aus dem Englischen übersetzt von Christoph Glanz und Ellen Rohlfs; gefunden haben wir sie auf der site des jüdischen online-Dienstes hagalil.com..
Verdammt noch mal:
Was ist mit dieser Armee los?
von Uri Avnery
WAS IST eigentlich mit dieser Armee los?
Diese Frage wird jetzt nicht nur immer stärker in der Weltgemeinschaft gestellt,
sondern auch in Israel selbst. Ganz offensichtlich besteht ein starker Kontrast
zwischen der prahlenden Arroganz der Armee, mit der Generationen von Israelis
aufgewachsen sind, und dem Bild, das sich durch den jetzigen Krieg ergibt.
Bevor nun aber der Chor der Generäle in das zu erwartende Wehgeschrei à la
Dolchstoßlegende verfällt - „Die Regierung hat uns die Hände gebunden! Die
Politiker haben die Armee nicht siegen lassen! Die politische Führung ist für
all das verantwortlich zu machen!“ - lohnt es sich, diesen Krieg einmal unter
einem professionellen militärischen Gesichtspunkt* zu betrachten.
Die Fakten sprechen für sich selbst:
DIE HAUPTSCHULD für das Versagen muss General Dan Halutz zugesprochen werden.
Ich sage bewusst „Schuld“ und nicht nur „Verantwortung“, die natürlich sowieso
immer beim Oberkommandierenden der Armee liegt. Er ist der lebende Beweis dafür,
dass ein aufgeblasenes Ego und eine brutale Vorgehensweise keinen kompetenten
Oberbefehlshaber machen – während sehr wohl das Gegenteil richtig sein könnte.
Halutz erreichte eine traurige Berühmtheit, als er gefragt wurde, was er spürt,
wenn er eine 1-Tonnen-Bombe über einem Wohngebiet ausklinkt und darauf
antwortete: „eine leichte Vibration am entsprechenden Flügel“. Er fügte hinzu,
dass er nach solchen Einsätzen nachts sehr gut schlafen könne. (Im selben
Interview nannte er meine Freunde und mich „Verräter“, die gerichtlich verfolgt
werden sollten).
Mittlerweile ist klar geworden – wiederum bezogen auf die Ergebnisse – dass Dan
Halutz der schlechteste Oberbefehlshaber in den Annalen der israelischen Armee
ist und komplett inkompetent für diesen Job.
Vor kurzem hat er die blaue Luftwaffen-Uniform gegen die grüne der Bodentruppen
eingetauscht. Zu spät.
Halutz begann diesen Krieg mit dem Übermut eines Luftwaffen-Soldaten. Er
glaubte, dass es möglich sei, die Hisbollah durch Luftbombardements, kombiniert
mit Artilleriefeuer von Land und See, zu zermalmen. Er glaubte, wenn er Städte,
Stadtviertel, Straßen und Brücken des Libanon zerstöre, dass dann das
libanesische Volk sich erheben und seine Regierung zwingen würde, die Hisbollah
zu entfernen. Eine Woche lang verwüstete und tötete er, bis es auch dem Letzten
klar wurde, dass er das Gegenteil damit erreichte – nämlich die Stärkung der
Hisbollah, die Schwächung ihrer Gegner im Libanon und der ganzen arabischen Welt
und die Ruinierung der weltweiten Sympathie, die Israel noch zu Anfang des
Krieges genoss.
Als er diesen Punkt erreicht hatte, wusste Halutz nicht mehr weiter. Für weitere
drei Wochen, schickte er seine Soldaten auf sinn- und hoffnungslose Missionen in
den Libanon, ohne irgendetwas damit zu erreichen. Selbst in den Kämpfen, die in
Dörfern in unmittelbarer Grenznähe tobten, wurden keine bemerkenswerten Siege
errungen. Nach Ablauf der vierten Woche, gebeten, der Regierung einen Plan
vorzulegen, legte er einen solchen vor – einen Plan von schier unglaublicher
Primitivität.
Wenn der „Feind“ eine reguläre Armee wäre, wäre der Plan ein schlechter - denn
den Feind einfach nur zurückzuschieben, ist keine gute Strategie. Aber wenn auf
der anderen Seite eine Guerilla-Truppe steht, ist diese Idee geradezu dumm.
Umgesetzt, wird dieser Plan möglicherweise zum Tod vieler Soldaten führen, und
das ohne jegliches Resultat.
Nun versucht er, einen Ersatzsieg zu erringen, indem er leeren Raum möglichst
weit entfernt von der Grenze besetzen lässt, nachdem die UN schon zu einem Ende
der Feindseligkeiten aufgerufen hat. Hinter dieser Linie bleibt die Hisbollah in
ihren Bunkern intakt.
WIE AUCH immer, der Oberbefehlshaber agiert nicht in einem luftleeren Raum. Als
Oberbefehlshaber hat er einen riesigen Einfluss und ist doch zugleich nur die
Spitze der militärischen Pyramide.
Dieser Krieg wirft einen gewaltigen Schatten auf das gesamte Führungspersonal
unserer Armee. Ich nehme an, dass es einige talentierte Offiziere darin gibt,
aber der Gesamteindruck ist der von Durchschnittlichkeit, grau in grau, ohne
jegliche Originalität. Beinahe alle Offiziere, die im Fernsehen so zahlreich
erscheinen, sind weder beeindruckend, noch inspirierend – einfach Handwerker auf
die Deckung ihrer Hintermänner bedacht, stetig leere Phrasen dreschend,
Papageien.
Die Ex-Generäle, die jedermann sonst aus den TV- und Rundfunk-Studios verdrängt
haben, überraschten meist durch ihre Niveaulosigkeit, begrenzte Intelligenz und
allgemeine Unwissenheit. Es verdichtet sich der Eindruck, dass sie keinerlei
Bücher über Kriegsgeschichte gelesen haben und diese Lücke nun mit leeren
Phrasen füllen.
Mehr als einmal wurde es in diesen Artikeln bereits gesagt: eine Armee, die seit
Jahren als koloniale Polizeitruppe gegen die palästinensische Bevölkerung agiert
– gegen „Terroristen“, Frauen und Kinder – und ihre Zeit damit verbringt, hinter
Steine werfenden Jungen hinterherzulaufen, kann keine effiziente Armee bleiben.
Die Überprüfung der bisherigen Resultate bestätigt das.
NACH JEDEM Fehlschlag des Militärs, ist der Nachrichtendienst darum bemüht,
möglichst schnell seine Blöße zu bedecken. Ihre leitenden Vorgesetzten geben
bekannt, alles gewusst zu haben, dass sie die Truppen mit vollständigen und
genauen Informationen beliefert haben, und dass nicht sie zu beschuldigen sind,
wenn die Armee nicht entsprechend handelt.
Das ist nicht glaubwürdig. Wenn man die Reaktionen der Kommandanten im Feld
betrachtet, schienen diese vom Verteidigungssystem der Hisbollah im Südlibanon
tatsächlich komplett überrascht zu sein. Die komplexe Infrastruktur der
verborgenen Bunker, gefüllt mit moderner Ausstattung, Nahrung und Waffen,
überraschte die Armee vollkommen. Für diese Bunker, einschließlich derer, die
zwei oder drei Kilometer von der Grenze entfernt sind, war sie nicht gewappnet.
Sie ähneln den Tunneln in Vietnam.
Der Nachrichtendienst war durch die lange Besetzung der palästinensischen
Gebiete korrumpiert worden. Sie war daran gewöhnt, sich auf Tausende von
Kollaborateuren zu verlassen, die sie im Laufe von 39 Jahren durch Folter,
Bestechung und Erpressung gewonnen hatten. (Drogenabhängige benötigen Drogen,
andere bettelten darum, ihre sterbende Mutter besuchen zu dürfen, ein anderer
wollte nur ein Stück vom Korruptionskuchen abhaben etc.) Hier wurde deutlich,
dass unter den Hisbollah keine Kollaborateure gefunden wurden. Und ohne sie ist
der Geheimdienst blind.
Es ist auch klar, dass sowohl der Geheimdienst, als auch die Armee allgemein,
nicht auf die tödliche Effizienz der panzerbrechenden Waffen der Hisbollah
eingestellt waren. Kaum zu glauben, aber nach offiziellen Angaben, wurden mehr
als 20 Panzer getroffen.
Der Panzer Merkava ist der Stolz der Armee. General Israel Tal, der Vater des
Merkava und siegreicher Panzerkommandeur, wollte damit nicht nur den weltweit
hochentwickeltsten Panzer bauen, sondern zugleich seine Besatzung mit bestem
Schutz versehen. Jetzt scheint es so zu sein, dass relativ simple
panzerbrechende Waffen, die in großer Anzahl verfügbar sind, einen Panzer
zerstören und die Insassen töten und schwer verwunden können.
DER GEMEINSAME Nenner all dieses Versagens ist die abwertende Ignoranz gegenüber
den Arabern, eine Verachtung, die fürchterliche Konsequenzen hat. Sie hat
totales Missverständnis verursacht, eine Art Blindheit für die Motive der
Hisbollah, ihre Haltung und ihre Stellung innerhalb der libanesischen
Gesellschaft etc.
Ich bin der Überzeugung, dass die heutigen Soldaten ihren Vorgängern in keiner
Weise unterlegen sind. Ihre Motivation ist hoch, sie haben großen Mut bei der
Bergung verletzter Kameraden unter feindlichem Feuer bewiesen. (Ich schätze das
in besonderem Maße, wurde doch mein eigenes Leben nach einer Verwundung unter
solchen Umständen von anderen Soldaten, die dabei ihr Leben riskierten,
gerettet.) Aber auch die besten Soldaten können nicht erfolgreich sein, wenn
ihre Kommandeure unfähig sind.
Die Geschichte lehrt, dass eine Niederlage für eine Armee ein Segen sein kann.
Eine siegreiche Armee ruht sich auf ihren Lorbeeren aus, sie hat keine
Motivation, sich selbst zu kritisieren, sie degeneriert, ihre Kommandeure werden
unvorsichtig und verlieren den nächsten Krieg (siehe hierzu den
Sechs-Tage-Krieg, auf den der Jom-Kippur-Krieg folgte.) Eine besiegte Armee
hingegen weiß, dass sie sich rehabilitieren muss. Unter einer Bedingung: dass
sie die Niederlage zugibt.
Nach diesem Krieg, muss der Oberbefehlshaber entlassen und die Gruppe der
leitenden Kommandeure umgekrempelt werden. Zu diesem Zweck wird ein
Verteidigungsminister gebraucht, der mehr ist, als eine Marionette des
Oberbefehlshabers. (Aber das betrifft die politische Führungsriege, zu deren
Versagen und Sünden ich mich ein anderes Mal äußern werde).
Wir als Friedensanhänger haben ein großes Interesse an der Auswechslung der
militärischen Führung. Erstens, weil sie großen Einfluss auf die Bildung der
politischen Agenda hat, und unverantwortliche Generäle - wie wir gesehen haben –
in der Lage sind, eine Regierung mit Leichtigkeit in gefährliche Abenteuer
mitzureißen. Und zweitens, weil wir selbst nach dem Erreichen eines Friedens,
auf eine effektive Armee angewiesen sein werden – zumindest bis der Wolf sich
zum Schafe legt, wie es der Prophet Jesaja formuliert hat. (Und dies nicht im
Sinne der israelischen Version: „ Kein Problem. Es muss dann nur jeden Tag ein
neues Schaf gebracht werden.“)
DIE HAUPTLEKTION dieses Krieges, jenseits aller militärischen Analyse, kommt in
den fünf Worten zum Ausdruck, die wir vom aller ersten Tag an als Slogan hoch
gehalten haben: „Es gibt keine militärische Lösung!“.
Selbst eine starke Armee kann eine Guerilla-Organisation nicht besiegen, denn
die Guerilla ist ein politisches Phänomen. Vielleicht ist das Gegenteil wahr: je
stärker die Armee, je besser sie mit high-tech Material ausgestattet ist, desto
geringer ist ihre Chance, in einer solchen Konfrontation zu gewinnen. Unser
Konflikt – im Norden, im Zentrum und im Süden – ist ein politischer und kann als
solcher nur mit politischen Mitteln gelöst werden. Die Armee ist das
unpassendste Instrument für diese Aufgabe.
Der Krieg hat bewiesen, dass die Hisbollah ein starker Gegner ist, und jeglicher
Lösungsvorschlag für den Norden muss sie berücksichtigen. Syrien ist ein starker
Verbündeter der Hisbollah, und daher muss eine solche Lösung auch Syrien
miteinbeziehen. Der ausgehandelte Kompromiss muss sich auch für die Syrer
lohnen, sonst wird der Frieden nicht von Dauer sein.
Der Preis besteht in der Rückgabe der Golanhöhen.
Was für den Norden zutrifft, gilt genauso für den Süden. Die Armee wird die
Palästinenser nicht besiegen, weil ein solcher Sieg komplett unmöglich ist. Wenn
man der Armee etwas Gutes tun will, muss man sie aus diesem Sumpf herausholen.
Wenn dies endlich in das Bewusstsein der israelischen Öffentlichkeit Eingang
finden würde, könnte sogar dieser Krieg noch eine positive Seite haben.
(Es ist an dieser Stelle vielleicht angebracht, eine persönliche Anmerkung einzufügen. Wer bin ich, dass ich über Militärstrategie sprechen dürfte? Bin ich etwa ein General? Nun, ich war 16 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Ich entschloss mich, die theoretische Militärliteratur zu studieren, um in der Lage zu sein, den Geschehnissen folgen zu können. Ich las einige hundert Bücher –von Sun Tzu über Klausewitz zu Liddel-Hart und so weiter. Später, im 1948-er Krieg lernte ich die Kehrseite der Medaille als Soldat und Zugführer kennen. Ich habe zwei Bücher über diesen Krieg geschrieben. Das macht keinen großen Strategen aus mir, aber erlaubt mir wohl, eine Meinung zu äußern.)
(Aus dem Englischen: Christoph Glanz, Ellen Rohlfs, vom
Verfasser autorisiert)
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